Clara Ponsatis Anwalt Aamer Anwar wirft der spanischen Justiz mangelnde Unabhängigkeit vor: „Es besteht politische Verfolgung“
Im Oktober 2017 entschieden sich mehrere Mitglieder der katalanischen Regierung, Katalonien zu verlassen und ins Exil zu gehen, weil sie Repression seitens des spanischen Staates fürchteten. Sie hatten nach einem Referendum zur Selbstbestimmung Kataloniens am 1. Oktober 2017, an dem mehr als zwei Millionen Menschen teilnahmen, die Unabhängigkeit ausgerufen. Nur wenige Tage nachdem sie das Land verlassen hatten, wurden weitere abgesetzte Mitglieder der katalanischen Regierung in Haft genommen. Viele von ihnen befinden sich noch immer in Untersuchungshaft. Gegen Clara Ponsatí, Bildungsministerin während Carles Puigdemonts Mandat, wurde ein europäischer Haftbefehl wegen Rebellion und Veruntreuung erlassen. Diese Straftaten könnten für sie eine Haftstrafe von bis zu 30 Jahren bedeuten.
Aamer Anwar, Rektor der Universität von Glasgow, ist auch der Anwalt von Frau Dr. Clara Ponsatí, die derzeit im Exil in Schottland ist. Als namhafter Rechtsanwalt und überzeugter Verteidiger der Menschenrechte hat er im Vereinigten Königreich Kampagnen gegen Rassismus geleitet und sich für Plattformen wie „Stop the war“ und Initiativen zur Aufnahme von Flüchtlingen engagiert.
In einem Interview im Programm „Preguntes freqüents“ (Häufig gestellte Fragen) des öffentlich-rechtlichen katalanischen Fernsehens (TV3) am 12. Mai, kritisierte Anwar die vom spanischen Staat ausgeübte Repression scharf und äußerte Bedenken hinsichtlich der spanischen Justiz. Er warf dem Justizapparat mangelnde Unabhängigkeit vor und beschuldigte die Richter „politische Verfolgung“ zu betreiben, nicht nur im Fall von Ponsatí, sondern auch im Fall anderer ehemaliger Regierungsmitglieder, die sich im Exil oder in Haft befinden.
Eine Frage der Menschenrechte
Für Anwar ist alles eine Frage der Menschenrechte, und dafür nannte er drei ganz konkrete Gründe: Erstens wird der Fall vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt, was bedeutet, dass keinerlei Form von Berufung möglich ist. Das hält er für „inakzeptabel“, da es um Haftstrafen von mehr als 30 Jahren geht – für die 60 Jahre alte Clara Ponsatí käme dies einer „Todesstrafe“ gleich. Zweitens kann die Untersuchungshaft bis zu vier Jahre dauern, bevor es überhaupt zur Gerichtsverhandlung kommt, aber die Familien der Inhaftierten leben Hunderte von Kilometern von den Gefängnissen entfernt. Drittens liegen keine Garantien für ein faires Verfahren vor und auch die Sicherheit der Gefangenen kann nicht gewährleistet werden, eben weil sie sich in spanischen Gefängnissen befinden – man denke an die entwürdigende Behandlung, die der katalanischen Gesellschaft am 1. Oktober widerfahren ist.
Anwar äußerte sich überhaupt sehr kritisch zur Rolle der Polizei- und Sicherheitskräfte des Staates, der „allein Verantwortlichen“ für die Gewalt, die Katalonien erlebte, da sie diese gegenüber friedlichen Bürgern einsetzten, die am 1. Oktober ihr Wahlrecht ausüben wollten. Anwar gab sich überzeugt: Wollte morgen Nicola Sturgeon eine Abstimmung über die Unabhängigkeit abhalten und schickte Theresa May 7.000 Polizisten zu einem Gewalteinsatz, so wäre Schottland innerhalb von 24 Stunden unabhängig. „Das ist kein Rechtsstaat, es ist Repression, Kolonialismus: eine Diktatur“.
Der schottische Rechtsanwalt hat auf die Arroganz der spanischen Regierung während des ganzen Verfahrens im Zusammenhang mit dem europäischen Haftbefehl hingewiesen: Die Regierung sei automatisch davon ausgegangen, dass alle Länder, die sie unterstützten, Ponsatí und die anderen sich im Exil befindenden ehemaligen Regierungsmitglieder sofort ausliefern würden. „Das war nicht der Fall. Sie sind gescheitert, weil in Europa ein Prinzip herrscht: die Gerechtigkeit und die Menschenrechte zu achten”, betonte er. Zudem bezeichnete er den europäischen Haftbefehl als einen Versuch, “die Forderung der Katalanen, ihr Recht auf Abstimmung auszuüben, zu kriminalisieren“.
Ein Straftaten-Puzzle
Aus diesem Grund zeigte sich Anwar fassungslos über die Art und Weise, wie der spanische Staat versuche, sich Straftaten zurechtzulegen, als ob es Puzzleteile wären, was wiederum zeige, dass man immer verzweifelter agiere und dabei die Spielregeln willkürlich ändere. Als Beispiel nannte er die Aufnahme der Straftat der Veruntreuung in den europäischen Haftbefehl, obwohl dieser Umstand von der spanischen Regierung selbst verneint worden war. Zudem wies er darauf hin, dass in Schottland die Straftatbestände von Rebellion und Aufruhr nicht existieren – mit dem zweiten versuche der Richter Pablo Llarena den Fall zu retten, falls der erste nicht funktionieren sollte.
Hinsichtlich der politischen Gefangenen rechnet Anwar mit einem langwierigen Prozess, für den es aber nur zwei mögliche Lösungen gebe: entweder vorm Europäischen Gerichtshof in Straßburg oder mittels einer „friedlichen Verhandlung“ mit dem spanischen Staat. Voraussetzung dafür sei aber die vorherige „bedingungslose“ Freilassung aller Gefangenen. Anwar bezeichnete die Strategie der spanischen Regierung als „Trickserei“: Man fordere eine Regierungsbildung in Katalonien, weil dadurch sowohl die Gefangenen als auch die Exilierten und die Repression in den Hintergrund treten und so die katalanische Bevölkerung schließlich resigniere.
Link zum Programm (katalanisch):
Link zum Programm in der Originalversion (englisch):